
Sonntag, 9. Februar 1997:
Fußgänger, Radfahrer, auf Schlitten gezogene Kinder, übermütige Hunde,
Schlittschuhläufer, glitzerbehoste Langläufer, stakende Tourenskifahrer, sogar
ein Rollstuhlfahrer mit Rennrollstuhl: alle wollen nach Bartholomä an diesem
schönen Tag, über´s Eis des seit zehn Jahren zum ersten Mal wieder richtig
zugefrorenen Königsees.
Sonntag, eine Woche zuvor:
in finsterer Nacht stehe ich allein beim Malerwinkel und weiß nicht recht was
ich von der spiegelblanken Eisfläche halten soll, die schwarz-dunkel vor mir
liegt. Irgendwelche Leute haben Steine und Äste auf das Eis geworfen um die
Festigkeit zu prüfen, Fußabdrücke sehe ich allerdings keine… Ich vertausche die
Plastikbergschuhe mit den Schlittschuhen. Unheimlich ist mir, allein in der
Nacht ins Eis einbrechen stelle ich mir eher weniger angenehm vor, aber es
hilft nichts, hier sitzenbleiben kann ich auch nicht… Ich fasse mir ein Herz
und schwinge mich auf´s Eis, das sich als einwandfrei fest erweist. Bald treffe
ich auf die Abdrücke eines Steigeisengehers, der zielstrebig in gerader Linie
mitten über den See gegangen ist und bald darauf auf die Schlittschuhspuren der
Kameraden, die eine gute Stunde vor mir auf dem Weg sind. Den Spuren folgend
wird mir gleich bedeutend wohler. Ein großartiges Erlebnis kann richtig
beginnen: das Gleiten auf den Schlittschuhen über die schweigenden Weiten des
gefrorenen Sees zum eigentlichen Ziel: der Watzmann Ostwand. Das letzte Stück
im Mondlicht, scharfgezogen die Linie zwischen Schatten und Licht, dahinter das
Eis hell-schwarz, matt weiße Berge ringsum, noch unwirklicher scheint die Welt.
In Bartholomä angekommen wechsle ich ganz ergriffen wieder die Schuhe. Weit
hinten am Eis flackert ein winziges Lichtpünktchen, es kommen also noch welche.
Die Schlittschuhe finden ein Versteck hinter einem Holzstoß und noch im
Finsteren mache ich mich auf den Weg zur Eiskapelle. Eher langsam und
bedächtig, im Bewußtsein, die Bergkameraden und einen großen Tag bei idealen
Verhältnissen in der höchsten Ostalpenwand vor mir zu haben.
Viele Wochen liegt der letzte Schneefall zurück. Dennoch gelang die begehrte
erste winterliche Durchsteigung in diesem Jahr erst vor ein paar Tagen einer
schlagkräftigen Berchtesgadener Truppe in einer Vollmondnacht, was in
einschlägigen Kreisen natürlich sofort die Runde gemacht hatte. Zuvor waren
alle Versuche auch namhafter Bewerber bei extrem tiefen Temperaturen im
grundlosen Grieselschnee gescheitert, wie unschwer mit dem Fernglas von der
Skischarte aus zu erkennen war. Die Verhältnisse bei der Nachtbegehung waren
günstig, wie man hörte, Unruhe brach aus unter den Berufenen…
Im Kessel unter der riesigen Wand wird es hell. Ich folge den Trittstapfen, die
nicht zu übersehen über die Schrofen im unteren Wandteil hinaufführen. Auf der
Querung ins Schuttkar verlieren sie sich teilweise im hartgefrorenen Firn.
Einige Zeit eiere ich ohne Steigeisen herum, gebe aber meinen falschen Ehrgeiz
bald auf und lege die Titaneisen an, gleich geht es viel besser. Einige
schneefreie Kletterstellen erfordern eine gewisse Aufmerksamkeit, ebenso eine
kurze ausgesetzte Querung mit Wassereis, es geht aber ganz gut. Bald stehe ich
im Schuttkar. Oberhalb, in den zur nach links ziehenden Rampe führenden Felsen
erreicht mich die Sonne und gleich ist es frühlingshaft warm. Auf einem
Gratrücken oberhalb sind schon die Freunde bei der Brotzeit zu sehen, wenige
Minuten später stehe ich bei ihnen. Robert, der mit seiner Figur als Dressman
sicherlich mehr verdienen könnte als in seinem Beruf als Lehrer; Christl, die
so hinreißend aussieht wie sie auf Skiern fährt und mich heute ausnahmsweise
mit einem Kuß empfängt, sowie ihr Bruder Hans, begeisterter Alpinist in den
besten Mannesjahren, der auf jeder Tour, würde der schwerste Rucksack prämiert,
mühelos den ersten Preis erringen könnte. Heute hat er aber immerhin schon den
Leichtpickel dabei, den wir, seine Bergkameraden, ihm zum 40. Geburtstag
geschenkt hatten. Einige Zeit machen wir Brotzeit, da kommt von unten schon der
nächste Trupp daher, sechs Berchtesgadener. Roland, der Haudegen, gibt das
gnadenlose Tempo vor, gefolgt von seiner jungen Frau Elisabeth, in kürzestem
Abstand die große Sportlerin Judith vormals Stöckl, jetzt Grassl, mit ihrem
angetrauten Franz, der unverwüstliche Erben Helei und der ebenso
unverwüstliche, durch Funk und Fernsehen international bekannte
Volksschauspieler Becker Kurtei.
Auch sie verweilen zu kurzer Rast. Jeder kennt jeden und alle sind erfreut über
das Zusammentreffen an diesem nicht alltäglichen Ort. Als erster gehe ich
schließlich weiter; das Zurückschauen zu dem Gratrücken, wo die anderen stehen,
hat etwas Lustiges: ein Trupp buntgekleideter Menschen in der Morgensonne auf
dem Firngrat, die Farben bringen etwas Unbeschwertes, Spielerisches, Heiteres
in die große Wand, dazu die ausgelassene Stimmung… Die ausgesetzte Linksquerung
einige Meter über aperen Fels gleich anschließend geht besser als gedacht. Bald
komme ich zum etwas unübersichtlichen und haltlosen Plattenschuß beim
”Wasserfallwandl”, der Schlüsselstelle der Route im dritten Schwierigkeitsgrad.
Eigentlich wollte ich hier warten, das Gelände ist allerdings dem Steinschlag
ausgesetzt und von oben kommen immer wieder kleinere Geschoße herab. Eine
Seilsicherung wäre aus dem Grund angebracht. Im Bewußtsein der Gefahr, darauf
hoffend, daß nicht ausgerechnet jetzt ein größerer Stein herunterfallen möge,
schleiche ich schnellstmöglich hinauf. Das ideale Schuhwerk für diese Platten
sind die Plastiktreter ja nicht gerade, die Stelle ist immer wieder irgendwie
unangenehm. Dafür ist das Gelände oberhalb fast schneefrei. Eine
Dreierseilschaft aus Reichenhall, ebenfalls bekannte Gesichter, legt gerade das
Seil ab. Gemeinsam steigen wir weiter, über die Rampe, mit den schönsten
Kletterstellen des Berchtesgadener Weges. Sogar die Rechtsquerung vom Schartl
am Ende der Rampe macht heute, anders als so manches mal sonst zur Winterszeit,
keine Probleme. Einige Schrofen noch mit den bekannt netten Kletterstellen im
festen Fels, dann stehen wir am Beginn der Gipfelschlucht, wo ein größerer
Absatz erst einmal eine ebensolche Pause nahelegt. Sogar ausgeaperte Steine zum
Draufsitzen finden sich. Brotzeit in Hemdsärmeln im oberen Teil der
winterlichen Watzmann Ostwand…
Nach und nach kommen die anderen auch wieder daher. Vom koffeinhaltigen
Zuckerwasser Coca Cola frisch gestärkt geht es weiter über die sich
aufsteilenden Schneehänge in Richtung der Biwakschachtel. Die Gruppe gibt dem
Ganzen einen ganz anderen Charakter. Obwohl die Schwerkraft davon völlig
unbeeinflußt bleibt und ein Ausrutscher die gleichen Folgen hätte als wäre
einer allein unterwegs, fühlt sich der Mensch durch die Anwesenheit anderer
doch gleich viel stärker, unverletzlicher. Wir sind doch alle Herdentiere,
manche mehr, manche weniger vielleicht…
Bei der Biwakschachtel eine letzte Verschnaufpause und Zusammenwarten, 300
Meter unter dem Gipfel. Über steile Schneehänge geht es weiter in Richtung
Ausstiegskamine. Kurz vor den Kaminen der jedesmal wieder je nach Verhältnissen
mehr oder weniger unangenehme ausgesetzte Spreizschritt nach rechts. Roland
fädelt ein Schnürl durch einen Haken, an dem sich alle dankbar festhalten. Ein
Ausrutscher hier ist unbedingt zu vermeiden… Die Kletterstellen in der
Kaminreihe bereiten keine weiteren Probleme, danach die Trittspur kerzengerade
hinauf, wie eine Leiter. Großartiges Steigen über Abgründen, viel Luft
ringsherum, 2000 Meter tiefer Bartholomä, auch die Watzmannkinder und
umliegenden Berge liegen bereits deutlich tiefer. Dann das letzte Wandl, nur
wenige Meter hoch, aber spärlich mit Griffen oder Tritten versehen. Ein alter
Haken mit einer Reepschnurschlinge steckt neben einem gebohrten
Alpenvereinssicherheitshaken, der allerdings ohne Seil auch nicht viel nützt.
Mit den Frontalzacken fädle ich in das alte Schlingerl ein, vorsichtiges
Aufrichten, ein Schritt noch mit schlechten Griffen, darüber… Greifbar nah der
Gipfelgrat in der Sonne. Die im Januar letzten Jahres reichlich ekelhaft zu
begehenden Felsen zeigen sich heute unter einer stabilen Schneeauflage. Einige
kurze Rinnen noch, dann, von einem Meter auf den anderen stehe ich am Grat in
der Sonne. Wenige Meter sind es noch bis zum Gipfel. Um 1 Uhr stehe ich oben
und bimmle erst einmal freudig mit der Gipfelkreuzglocke. Wenig später kommen
auch die anderen der Reihe nach daher und bald herrscht auf dem nicht gerade
weiträumigen Gipfel ein regelrechtes Getümmel. Eine gute Stunde bleiben wir
oben, auf dem höchsten Gipfel unserer Berchtesgadener Berge, im strahlenden
Sonnenschein, bei Wärme und Windstille. Dann der Abstieg. Die ersten Rinnen
sind mit Vorsicht zu genießen, beinhart ist der Firn. Am nicht mehr so steilen
Schönfeld können dann die Steigeisen abgeschnallt werden, angenehmerweise
erweisen sich die anschließenden Hänge teilweise als rutschbar. Eine Tortur wie
jedesmal: das kilometerlange Wimbachgries mit den Plastiktretern. Nach dem
Schloß lauern völlig überflüssigerweise auch noch gemeine Eisplatten auf dem
flachen Weg, um die Sieger auf schmähliche Weise zu Fall zu bringen.
Endlich, bei Einbruch der Dämmerung, erreichen wir das erste Wirtshaus. Ein
großer Augenblick: das Ansetzen der ersten Halben Bier, nicht mehr gehen
müssen, nur noch essen und trinken… Finster ist es schon, da kommen noch vier
daher. 18 Personen waren somit unterwegs an diesem denkwürdigen Tag in der
winterlichen Watzmann Ostwand, bei wolkenlosem Wetter und Verhältnissen, wie
sie in vielen Jahren nur einmal vorkommen. Nach einem angemessenen Gelage, bis
von dem geliehenen Geldbetrag wirklich nichts mehr übrig war, ging der große
Tag zu Ende… Allein und doch in bester Gesellschaft in der großen Wand, ein Tag
an dem wirklich alles gepaßt hat.
A. H. 05/1997
Die Bilder stammen von Winterbegehungen der Ostwand 1988 und 1996
Bilder
1 Gisela Kessler im unteren Wandbereich
bei einer Winterbegehung 1988
2 Die Rampe nach den Wasserfallplatten war sogar schneefrei
3 Beste Verhältnisse am Beginn der Gipfelschlucht
4 Unbeschwertes Steigen über Abgründen
5 Oberhalb der Biwakschachtel
6 Oben wirds nochmal steil. Gisela stieg sicher, sodass wir auf eine
Seilsicherung verzichten konnten.
7 Letzte schwierige Stelle vor dem Gipfel
8 Am winterlichen Watzmanngipfel (Südspitze).
Gisela: Wir gingen viele schwere Klettertouren miteinander, ich stieg meistens voraus, sie mit leichtem Rucksack hinten nach.
Wir ergänzten uns bestens, kamen meistens ziemlich flott überall hinauf, unsere Unternehmungen, auch in schweren Wänden
hatten was Entspanntes. Im Herbst 1997 verunglückte Gisela tödlich durch Steinschlag im Wilden Kaiser auf einer für ihre
Verhältnisse leichten Tour.
1 Morgenstimmung in der Ostwand bei einer Winterbegehung 1996
2 Am Beginn der Gipfelschlucht
3 Steile Firnhänge im oberen Teil der Gipfelschlucht (1996)