
Die Watzmann Ostwand
- Mal etwas schneller -
Anmerkung: Die Begehung stellte für 27 Jahre den Rekord für eine Durchsteigung der Ostwand dar (2.10,12).
Wens interessiert, hier gleich noch die schnellsten Besteigungen der Ostwand bis heute:
Information für weitere Kandidaten: Um die Vergleichbarkeit der Zeit zu gewährleisten besteht neuerdings die Übereinkunft
dass der Start in St. Bartholomä an der Seelände erfolgen soll (eine Hand ins Wasser halten). Ziel: Anschlag mit Hand am
Gipfelkreuz der Südspitze. Somit sind meiner Zeit etwa 30 Sekunden hinzuzufügen.
Ein schöner Herbsttag des Jahres 1988. Es war wieder einmal soweit: Höchste
Zeit,
den Alltagskram hinten oder besser gesagt unten zu lassen… Überschüssige
Energien wollten abgebaut, der Geist von unnützen Gedanken befreit werden. Der
Auftrieb war ungewöhnlich, es mußte sofort etwas geschehen. Eine Tat! Die
Watzmann Ostwand schien gerade recht und zwar so schnell wie möglich!
Um Punkt 12.00 Uhr lege ich den Bleistift meiner damaligen
Halbtagsbeschäftigung aus der Hand und lege ihn, frisch gespitzt, parallel zum
Radiergummi im linken oberen Viertel der grünen Schreibunterlage ab, wie jeden
Tag…
Eine halbe Stunde später sitze ich unauffällig auf einem vollbesetzten
Königseeschiff. Ein Bediensteter der staatlichen
Königseeschiffahrtsgesellschaft in blauem Anzug mit Krawatte zelebriert den
Standardtext. Das gesunkene Pilgerschiff, die Brust der Schlafenden Hexe… ich
kenne das alles schon. Videokameras surren, Photoapparate klicken, Hemden
spannen im Nabelbereich, Deodorants versagen, auf Glatzen bilden sich
Schweißperlen… das Echoblasen auch heute wieder eine freiwillige und durstige
Angelegenheit… Reglos sitze ich, in Gedanken bin ich schon woanders…
Kurz später: die Fahrt des Bootes erweckt den Eindruck, als ob die Grate der
Watzmann-Frau zurückgezogen würden wie der Vorhang einer Bühne. Nach und nach
wird der Blick frei auf die riesige Watzmann Ostwand. Zum wievielten Mal erlebe
ich das jetzt? Trotzdem ist es jedesmal wieder ungemein eindrucksvoll. Ein
leicht mulmiges Gefühl beschleicht mich, wenn ich an meinen 176 Zentimetern
Lebensgröße hinabschaue, und Vergleiche anstelle mit den 2000 Metern Fels, die
dort hinten über der Eiskapelle aufragen… Soll ich Winzling wirklich heute da
noch hoch?
Unruhe erfaßt mich, allerdings keine lähmende, sondern eine, die bis in die
letzten Muskelfasern Kräfte freizusetzen vermag.
Bartholomä: Aussteigen. An den Souvenierläden vorbei bewegt sich der träge
Menschenstrom, ich mittendrin, in Richtung Wirtshaus, wo sich die meisten erst
einmal niederlassen, um sich von den Strapazen der Bootsfahrt zu erholen. Ein
paar Meter dahinter, an der Wegtafel in Richtung Eisbachtal, bleibe ich stehen
und binde meine Turnschuhe fest. Sorgfältig schnalle ich das “Wimmerl” mit dem
trockenen Unterhemd und einem Müsliriegel um und ordne Turnhose und T-Shirt
möglichst nichtkneifend. Einige Atem- und Lockerungsübungen noch, bis der
Sekundenzeiger meiner Armbanduhr oben steht und los…
Wie ein Dieb auf der Flucht laufe ich los, nehme aber nach
hundert Metern das Tempo zurück, denn das Ziel ist doch noch recht weit: das
Gipfelkreuz der Watzmann Südspitze…
Im Dauerlauf trabe ich das Eisbachtal hinein, immer jedoch auf Schonung der
Kräfte bedacht.
Vor der Eiskapelle, im eindrucksvollen Kessel unter der Wand besteht einmal
mehr Gelegenheit, die Dimensionen dieser großartigen Wand zu bewundern. Das
Wetter ist absolut sicher, keine Wolke steht am Himmel des warmen
Spätsommertages. Die Luft ist ganz trocken und frisch laufe ich dem Schneefeld
am Fuße der Wand zu. Links davon steilt sich das Gelände auf, dort befindet
sich der Einstieg zum Berchtesgadener Weg. Die Schrofen, Rinnen und Wandstufen
des unteren Wandteils erweisen sich bei meinem heutigen Bemühen um rasche
Fortbewegung als durchaus schweißtreibend. Auch mag sich in dem Gelände kein
rechter Rhythmus des Steigens einstellen.
Auf der Querung ins erste Schuttkar ist wieder Laufschritt möglich, das
schottrige Kar etwas lästig, darüber die nach links ziehende Rampe: mäßig
steiler, fester Fels, kurzweiliges Steigen über wachsenden Abgründen. Die
Ideallinie ergibt sich wie von selbst, keine überflüssige Bewegung, kein zu
großer oder zu kleiner Schritt, auch die Atmung gleichmäßig, maschinenhaft…
Eine gewisse Grenze der Belastung wird nicht überschritten. Unter dem
“Wasserfallwandl” hole ich eine Dreier-Seilschaft mit monströsen Rucksäcken
ein. Klemmkeile bimmeln, Seile kringeln, Schotter knirscht unter schweren
Lederbergstiefeln… Im Vorbeigehen grüße ich freundlich, ohne sie jedoch um ihr
Gepäck zu beneiden…
Das etwa 50 Meter hohe “Wandl”: Plattige, ungegliederte und etwas
unübersichtliche Felsen. Aber gerade hier kenne ich jeden Meter und in
kürzester Zeit bin ich oben. Das Gelände wird wieder flacher, ich quere nach
rechts und halte mich wieder aufwärts. Auf einmal werden die Felsen immer
steiler und unangenehmer… hier war ich doch noch nie! Plötzlich kommt es mir
siedendheiß: Ich bin zu früh nach rechts gequert, die große Querung befindet
sich ja erst oberhalb der Rampe! Wie konnte mir so etwas Blödes nur passieren,
nachdem ich bis dahin nicht einen Meter falsch gegangen war? „Vor lauter
schnell schnell eben , Esel!…“ denke ich mir. Aber das hilft mir jetzt auch
nicht weiter. Zum ersten Mal bleibe ich stehen und versuche das Gelände zu
beurteilen: Werde ich nach oben durchkommen und wieder auf die richtige Route
gelangen? Oder soll ich gleich zurück?
Noch geht es, und umdrehen kann ich weiter oben ja immer noch… So klettere ich
vorsichtig weiter.
Es erwartet mich eine nicht unluftige Stelle jenseits des
dritten Schwierigkeitsgrades. Das darüberliegende Gelände ist von unten nicht
einsehbar, doch Gott sei Dank, oberhalb wird es wieder flacher und ich kann zum
oberen Ende der Rampe hinüberqueren… Die Begebenheit hat mich einiges an Zeit
gekostet, wo es heute doch um Sekunden geht! Vor allem aber hat sie mich aus
dem inneren Gleichgewicht gebracht. Schlagartig fühle ich mich ganz matt, wie
ein getretener Hund. Die Unbeschwertheit des Steigens ist vorläufig dahin.
Nach dem nun richtigen Quergang folgen die bekannten Schrofen und gutgriffigen
Wandstellen. Ein
letzter Aufschwung und immer wieder überraschend: Auf einmal steht man in der
riesigen Gipfelschlucht. Genauer gesagt: ich stehe nicht, sondern gehe vielmehr
am Beginn der Gipfelschlucht. Die Bezeichnung ist leicht irreführend, denn mit
dem Gipfel hat diese überdimensionale Steinschlag- und Lawinenrutschbahn an
dieser Stelle noch nicht viel zu tun.
Über 700 Höhenmeter wollen bis zum höchsten Punkt noch erklommen sein. Obwohl
ich nicht langsam gehe, fühle ich mich zum Glück wieder ziemlich frisch. Das
liegt wohl auch an der immer wieder eindrucksvollen Szenerie. Mehr als 1500
Meter tiefer liegt bereits der Königsee, gegenüber in der Nachmittagssonne das
einsame Hagengebirge. Erinnerungen an unvergeßliche Skiüberschreitungen,
Wanderungen, Biwakromantik… Die Höhe der Watzmannkinder ist schon fast
erreicht. Ihre wilden Südabstürze begrenzen rechterhand die große Wand, in der
ein winziger Mensch mit einem roten “Wimmerl” um die Hüfte immer noch ganz
flott höhersteigt.
Die Gipfelschlucht hat sich noch immer gezogen und sie zieht sich auch heute.
Endlich erreiche ich die Biwakschachtel, die winzige Blechkiste an einer der
wenigen geschützten Stellen in der ganzen Wand. Als eine Art Pause gehe ich
kurz ein bißchen langsamer. Noch 300 Meter bis zum Gipfel. In kurzweiliger
Kletterei führen Kamine und Wandstellen rechtshaltend hinauf. Bald stehe ich an
der letzten schwierigeren Stelle, einer kurzen senkrechten Wandstufe. Ein Haken
mit Schlinge bietet seine Hilfe an. Ich packe sie und ziehe mich über die vom
Schweiß ekelhaft glattpolierte Stelle hinauf. Nur noch wenige Minuten bis zum
Gipfelgrat. Dann, von einem Meter auf den anderen entsteige ich der großen
Wand, befinde mich am flachen Grat in der Sonne. Auf den letzten Metern zum
Gipfel bemühe ich mich um einen angemessenen Endspurt. Außer Atem schlage ich
mit der rechten Hand am Kreuz an, die Armbanduhr an der linken zeigt, daß ich
zwei Stunden, zehn Minuten und zwölf Sekunden zuvor noch beim Wirtshaus unten
in Bartholomä gestanden bin…
Am Gipfel keine Menschenseele. Als sich Sauerstoffschuld und Puls beruhigt
haben, wechsle ich mein Unterhemd und esse den Müsliriegel. Durst habe ich
keinen, zu trinken hab ich eh nichts dabei… Nach eingehender Betrachtung der
wunderbaren Heimatberge, auf einer deren höchsten Spitzen ich stehe, steige ich
langsam und vorsichtig, um mir mit den Turnschuhen im Schotter keinen Fuß zu
verknacksen, ins Wimbachtal ab. Bei der Hütte genehmige ich mir eine
Radlerhalbe, bevor ich im leichten Dauerlauf das Grieß hinaustrabe. Beim ersten
Haus erwartet mich mein Fahrrad, das ich am Morgen dort eingestellt hatte.
Ziemlich genau nach sechs Stunden schließt sich die Runde beim Auto in Königsee
wieder.
Der innere Friede war wieder einmal gerettet, zumindest für einige Tage… Wie
schnell sind zwei Stunden vor der Glotze verhockt, auf einem Kanapee verlegen
oder durch unnütze Diskussionen vertan?! Mit etwas Elan kann in der Zeit die
höchste Wand der Ostalpen auf den höchsten Gipfel der Berchtesgadener Berge
durchstiegen werden! Ansonsten will der Schreiber durch diese Geschichte weder
zur Nachahmung anregen, noch Glauben machen, daß diese seine Tat irgendeinen
Nutzen für irgendwelche Mitmenschen oder die Gesellschaft überhaupt beinhalten
könnte, außer für ihn selbst… Irgendwann lebt jeder einmal in erster Linie von
netten Erinnerungen… mancher später, mancher früher…
A.H. 1998
Watzmann Ostwand, Salzburger Weg
im Spätherbst, mit Sepp und Hanni, vermutlich Anfang der 80er Jahre
Bilder
1 Am Einstieg vom Salzburger Weg, Tiefblick auf´s Schöllhorneis
2/3 Geboten ist auf 250 Metern fester Fels und eine schöne Kletterei
4 Ende der Schwierigkeiten, Sepp schießt das Seil auf
5 In der Gipfelschlucht
6 Auf der Südspitze. Unten der Königssee, im Hintergrund das Hagengebirge im
warmen Licht der tiefstehenden Herbstsonne
Berchtesgadener Weg 1986
Sabinchen wollte auch mal die Ostwand gehen. Ob ich sie mitnehmen könnte? Na klaro. Am späten Nachmittag eines
Herbsttages gingen wir erst los und erreichten bei einbrechender Dämmerung die Biwakschachtel. Nach einer romantischen
Nacht in der winzigen Blechkiste stiegen wir in der Morgensonne weiter. Die Kaminreihe zum Gipfel bietet kurzweilige
Kletterei. Ein strahlender Tag, noch kein Mensch unterwegs. Allein saßen wir oben. Ins Wimbachgries stiegen wir ab.
Eine gelungene Tour.
Bilder
1 In der Ostwand an einem Herbstnachmittag. Die Sonne ist schon weg
2 Der nächste Tag: Sonnenaufgang über dem Hagengebirge
3 Sabinchen in der Biwakschachtel. Winzige Blechbehausung inmitten von Abgründen
4 Tiefblick in die Gipfelschlucht
5 Kaminreihe zum Gipfel in der Morgensonne
6 Am Gipfel der Südspitze (2712 m). Hinten die Hohen Tauern
Damals in der Ostwand
(24. 09.1991)
Der Nachmittag des Herbsttages war weit fortgeschritten, als wir in die Watzmann-Ostwand einstiegen, Bernhard und ich – damals... Wir gingen schnell, der Nacht entgegen. Auf der Südspitze angekommen, lagen die Täler schon in tiefer Finsternis. Von Westen glimmte letztes Dämmerlicht, das die Gipfelfelsen in stählern blasse Farben tauchte. Vollkommen still war es als im Osten der Vollmond aufging. Als Romantiker entschlossen wir uns, nicht ins Wimbachtal abzusteigen, sondern über den Grat den Rückweg in die Zivilisation anzutreten. Nach kurzer Zeit standen wir drüben auf der Mittelspitze. Freundlich beschien der Mond die Ostflanken der Berge. Der Einfall kam von mir: Abstieg über die Wiederroute... – warum nicht? Das wäre doch viel kurzweiliger als der Schotterweg zum Watzmannhaus runter. Bernhard – damals bei jedem Blödsinn gern dabei – brauchte nicht lange überredet zu werden. Wenige Minuten später standen wir schon auf den schmalen Bändern, die linkshaltend in Richtung des großen Plattenbandes abwärts führen. Bald kamen Wandstufen. Die Beurteilung des Geländes erwies sich als problematischer als gedacht. Besonders schlecht einzuschätzen waren die Entfernungen: ging es fünf oder zwanzig Meter zum nächsten Band hinab? Sind wir dort überhaupt noch richtig? Fragen dieser Art kam angesichts der allgegenwärtigen Einwirkungen der Schwerkraft eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Bis auf einen kleinen Verhauer, der einige Meter Abklettern über eine steile Wandstufe erforderlich machte, gelang der Abstieg jedoch reibungslos. Glücklich standen wir am großen Plattenband. Der Weiterweg war klar. Zumindest bis zum Ende des Bandes. Gerade stiegen wir weiter über die Wand ab. Das Gelände war leicht. Irgendwo hier musste es aber nach rechts gehen, das wusste ich genau. Nirgendwo bot sich eine Möglichkeit. Die Wand wurde steiler und steiler, brach schließlich senkrecht ins Kar ab: „Mist... unmöglich... hier geht nichts...“ Mit dieser nackten Tatsache vor Augen kletterten wir – körperlich und nervlich leicht angeknackst – zu später Stunde zurück. Ein gutes Stück oberhalb: die Querung – völlig logisch aus der Perspektive. Wie konnte ich da nur vorbeigehen? Ohne weitere Zwischenfälle standen wir kurz danach im Watzmannkar. Dort verließ uns der Mond und im finsteren Watzmannkar nach Kühroint hinunter war es ein ordentliches Gestolpere. Es folgte noch der Hatscher auf der Sandstraße nach Wimbachbruck aber das ging auch vorbei.
Weil ich´s aufschrieb, weiß ich´s noch: