
Anmerkung:
Der Artikel erschien im Berchtesgadener Anzeiger in der Ausgabe Samstag/Sonntag 6./7. Juli 2002 sowie
im Reichenhaller Tagblatt ebenfalls in der Ausgabe Samstag/Sonntag 6./7. Juli 2002
40 Jahre »Direkte Pfeilersüdwand« („Schertle-Pfeiler“) am Untersberg
Zur Erinnerung an den Reichenhaller Kletterer Werner Schertle († 1979)
Vor 40 Jahren, vom 6. bis 9. Juli 1962, eröffneten Werner
Schertle und Heinz Steinkötter mit der »Direkten Pfeilersüdwand« am Untersberg
die erste Direttissima-Route in den Berchtesgadener Alpen. Bei dem Anstieg
durch die 300 Meter hohe, durchwegs senkrechte bis überhängende Wand handelt es
sich um eine vorwiegend hakentechnische Kletterei im Schwierigkeitsgrad VI/A3 (VI
= der damals höchste Schwierigkeitsgrad in freier Kletterei; A für
„artifiziell“ (künstlich) = Bewertung für die Schwierigkeiten beim Anbringen
von Haken).
Der mittlere und abweisendste Untersbergpfeiler fällt auf durch seinen gelben,
eher unzuverlässigen Fels, durch einen riesigen Überhang im ersten Wanddrittel
und durch kompakte Wülste aus grauem Fels im oberen Teil.
Fünf Anläufe und mehrere Biwaks in Hängematten waren nötig, bis die Erstbegeher
schließlich glücklich den Gipfel erreichten.
Die erste Neutour des jungen (damals 24-jährigen) Werner
Schertle gehört heute noch zum wildesten und luftigsten, was die
Berchtesgadener Alpen an künstlicher Kletterei zu bieten haben. Nach einer
Generalsanierung mit modernen Klebebohrhaken konnte der Pfeiler neuerdings sogar
frei (d. h. die Haken werden nur zur Sicherung, nicht aber zur Fortbewegung z.
B. zum Festhalten o. ä. benutzt) geklettert werden. Die Schwierigkeiten erhöhen
sich dann auf den IX. Grad.
Im Folgenden soll die die Geschichte der Erstbegehung anhand der Tagebuchaufzeichnungen des Erstbegehers nachvollzogen werden.
Im Dezember 1960 stieg Schertle mit Franz Rasp aus Maria Gern (der im Winter
1988 bei seiner 295. Watzmann-Ostwandbegehung tödlich abstürzte) zum ersten Mal
in den Pfeiler ein. Ein riesiges, ca. 10 Meter ausladendes Dach im unteren
Wandteil umgingen sie auf der Pfeilersüdwand-Route von Hinterstoisser/Kurz
(1936), der sie zwei Seillängen und noch ein Stück rechtshaltend über eine
Rampe folgten, bis eine Querung nach links in die Falllinie des Pfeilers
möglich schien. Schertle führte und gelangte über einen 50 Meter langen
Quergang in freier Kletterei zur Mitte des Pfeilers zurück, wo er direkt an der
Oberkante eines riesigen, dachgiebelartigen Überhanges einen Schlingenstand
einrichtete (d. h. es gibt dort keinen Platz zum Stehen oder Sitzen, in der
Wand eingeschlagene Haken sind der einzige Halt, der Bequemlichkeit halber
steht man mit den Füßen in Steigschlingen). Hier reichte es für´s erste einmal.
Da vom Standplatz an der Dachkante Abseilen nicht möglich war – man würde am
Seilende weit weg von der Wand in der Luft baumeln – mussten die beiden den
Quergang zurückklettern. Mit dem Vorsatz, so bald wie möglich im Frühjahr
wiederzukommen, seilten sie über die Pfeilersüdwand ab.
Infolge einer Knieverletzung dauerte es jedoch über ein Jahr bis Schertle Ende
Mai 1962 die „Arbeiten“ am Pfeiler wieder aufnehmen konnte. Als Kletterpartner
wählte er den jungen Heinz Steinkötter aus, der damals in Reichenhall bei den
Gebirgsjägern stationiert war und der später, in Trient ansässig, durch eine
Reihe schwieriger Erstbegehungen in den Dolomiten auf sich aufmerksam machte.
Vom Stand über dem Giebeldach arbeitete sich Schertle linkshaltend an Haken ins
senkrechte Neuland. Als er nach einer Seillänge diffiziler Hakenkletterei einen
weiteren Schlingenstand eingerichtet hatte, beendete der Bruch seines
Kletterhammers die Bemühungen des Tages.
Am unteren Standplatz, zu dem er sich wieder abgelassen hatte, richteten sich
die beiden zur Übernachtung in Hängematten ein. In der Nacht begann es zu
regnen, aber im Schutz der Überhänge wurden die beiden nicht einmal nass. Regen
und Nebel machten im Morgengrauen das Aufstehen zu einer ungemütlichen
Angelegenheit. Als sich das Wetter nicht bessern wollte, stiegen sie ab.
Eine Woche später kamen sie zum Pfeiler zurück. In einem glatten Wulst oberhalb
des beim letzten Versuch erreichten Schlingenstandes kam der erste Bohrhaken in
den Berchtesgadener Alpen zum Einsatz (für Nichtkletterer: Wenn alle
Möglichkeiten, in freier oder hakentechnischer Kletterei weiterzukommen,
erschöpft sind, gibt es für den Kletterer zwei Möglichkeiten: a) abseilen oder
b) er fertigt mit einem kleinen Handbohrer in mühsamer Arbeit ein ca. 1-2 cm
tiefes Loch, in dem ein Spezialhaken verankert wird, mit dessen Hilfe die
glatte Passage überwunden werden kann). Fünf Stunden hatte Steinkötter für die
Seillänge unter den bereits von unten auffallenden großen Überhang gebraucht.
Die beiden staunten nicht schlecht, als sie dort, 20 Meter unter dem weit ausladenden
Überhang eine Wandeinbuchtung vorfanden, einen ebenen Boden von 5-6
Quadratmetern, von drei Seiten geschützt, wie eine Insel in einem Meer aus
senkrechtem und überhängendem Fels. An diesem idealen Biwakplatz richteten sie
sich erst einmal für die Nacht ein. Einige Meter links durchzog ein Riss als
einzige Durchstiegsmöglichkeit den großen Überhang, an dem – wenig ermutigend –
oben auch noch ein waagrechtes Dach herausragte. „Mit diesem riesigen
Dachüberhang, mit seinen unterbrochenen Rissen und seiner kaminartigen Höhle
werde ich morgen kämpfen. Ich glaube ich werde alles einsetzen müssen, um ihn
zu schaffen…“ notierte Werner in seinem Tagebuch.
Ein Gewitter machte den beiden in ihrem geschützten Winkel überhaupt nichts
aus. Am Morgen ging Schertle den Überhang an. Es ging schon zweifelhaft los:
der erste eingeschlagene Holzkeil hielt nicht und „rums, schon lag ich zwei
Meter tiefer“… Ein Felsköpfl als Zwischensicherung hielt den Sturz auf. Erneut
eingeschlagen hielt der Keil und Schertle arbeitete sich in gelbem
unzuverlässigem Fels höher: „die Gegend wurde immer überhängender“ und gelangte
schließlich unter das den Überhang abschließende Dach. Fast waagrecht in den
Seilen hängend gelang es ihm, über der Dachkante einen Haken anzubringen, „er
hielt, ich hing an der Kante… der Blick nach unten ist nur Luft…“. Würde einer
an dieser Stelle ungesichert stürzen, er würde ohne auch nur einmal die Wand zu
berühren bis zum Wandfuß fallen. Wegen der großen Seilreibung konnte Schertle
gerade noch ein drei Meter höher liegendes winziges Band erreichen, wo er
sichere Standhaken schlagen konnte. In gerader Linie zog ein Riss senkrecht
weiter durch den gelben Fels. Was man hier brauchte waren Spezialhaken
(Profilhaken), die die beiden nicht mitführten. Wieder hatte es, wenn auch weit
draußen, zu regnen begonnen. Obwohl noch früh am Tag, entschlossen sie sich zum
Rückzug.
Der vierte Versuch am nächsten Wochenende sollte eigentlich den Gipfel bringen.
Samstag Mittag standen die beiden schon mitsamt der ganzen Ausrüstung über dem
großen Überhang. Steinkötter führte im senkrechten Riss weiter. Schon am Morgen
waren Nebelschwaden um die Wand gezogen, nun steckten die beiden im dichten
Nebel, „ein unangenehmes Gefühl in dieser ausgesetzten Wand…“, noch dazu, da
Steinkötter meistens nur unsichere Haken anbringen konnte. Ein starkes Rauschen
außerhalb der Wand ließ darauf schließen, dass es schon wieder zu regnen
begonnen hatte, und das ziemlich stark. Als dann auch noch Wind aufkam, der den
Regen gegen die Wand peitschte, wurde die Stimmung trostlos. Ein weiterer
komplizierter Rückzug mit Abklettern und Abseilen war fällig.
Der fünfte Versuch vom 6. bis 9. Juli 1962 brachte
schließlich den Erfolg, obwohl
die Bedingungen zunächst nicht günstig schienen. Als sie am Freitag Abend zum
Störhaus auf der Hochfläche aufstiegen, setzte plötzlich ein heftiger
Schneesturm ein, und in kürzester Zeit wurde – mitten im Sommer – die ganze
Gegend weiß. Am nächsten Morgen dichter Nebel, nichts zu machen. Also
Weiterschlafen, bis im Laufe des Vormittags helle Flecken zwischen den Wolken
auf Wetterbesserung hoffen ließen. Schnell durch das Mittagsloch abgestiegen
und zum Einstieg geeilt. Erst am späten Nachmittag erreichten sie den
Umkehrpunkt über dem großen Überhang. Steinkötter führte und vollendete die
beim letzten Versuch begonnene Seillänge. 2 Stunden benötigte er für 20 Meter
schwierigster Hakenkletterei. Schließlich gelang es ihm, eine Seillänge über
Schertle, unter einem glatten Wulst einen weiteren Schlingenstand einzurichten.
Bei einsetzender Dämmerung verblieb nicht mehr viel Zeit, den Schlafsack und
etwas Verpflegung aufzuseilen und die Hängematte zu installieren.
Durch 40 Meter senkrechten Fels getrennt bezog jeder – Fledermäusen nicht
unähnlich – sein Nachtlager in einer kleinen, an senkrechter Wand befestigten
Hängematte.
Die Nacht war kalt und klar. Am Morgen musste erst einmal das ganze Gepäck
aufgeseilt werden, bevor Schertle zu seinem Kameraden hinaufsteigen konnte.
Jetzt wurde es richtig problematisch. Sie standen unter dem ersten von drei
schon von unten sichtbaren bauchigen Wülsten mit grauem geschlossenem Fels:
„Zum ersten Mal sehe ich sie (die Wülste) aus der Nähe, glatt wie Beton“. Was
von unten nicht zu sehen war: An der linken Begrenzung des Wulstes bot eine
kleine Verschneidung, wenn auch feucht und schmierig, ein Weiterkommen.
Durch sie konnte Schertle, der wieder die Führung übernommen hatte, an
unzuverlässigen, im Riss verkeilten Knotenschlingen den ersten Wulst sozusagen
überlisten.
Unter dem zweiten Wulst endete die Verschneidung jedoch und hier sah es, wie
Schertle in seinem Tourenbuch vermerkt, „böse aus“. Wie weiter? Ein erster
Versuch nach links an langen Eishaken und anderen Spezialhaken brachte ihn über
den Wulst, wo er jedoch sofort erkannte, dass es hier nicht weiterging. Eine
Vielzahl von Bohrhaken wäre in den völlig glatten Platten oberhalb nötig
gewesen. Also zurück und rechts probiert. Die folgende Passage sollte sich als
die kniffligste der ganzen Wand erweisen. Es kam alles zusammen, glatter,
hakenabweisender Fels, unklare Linienführung und gnadenlose Ausgesetztheit.
Es galt, unter dem Wulst über völlig glatten Fels in einem Pendelmanöver einige
Meter nach rechts zu gelangen, bis dahin, wo Schertle eine eventuelle
Möglichkeit zu seiner Überwindung ausgemacht hatte. Ein Haken, den er für den
Pendelquergang hinter eine Schuppe geschlagen hatte, brach aus und
Sekundenbruchteile später fand sich Schertle einige Meter tiefer im Seil
hängend wieder. Erneut eingeschlagen hielt der Haken und nach einem kraftraubenden
Manöver gelang es ihm schließlich, drüben unter dem Wulst einen Bohrhaken zu
setzen.
25 Meter waren – der Nachmittag war schon wieder weit fortgeschritten – die
bisherige Bilanz des Tages. Der Wulst wies dort tatsächlich eine Schwachstelle
auf, die sich ganz gut überwinden ließ und, oberhalb, er glaubte seinen Augen
nicht zu trauen, genau an der Stelle, an der er über den Wulst kam, zog eine
Reihe von Löchern und Rißspuren etwa 20 Meter nach rechts aufwärts durch die
ansonsten mauerglatte Wand.
Oberhalb wartete noch der dritte Wulst, ein letztes Fragezeichen, von dessen
Ende aber schon die Spitzen von Latschenbuschen über die Wand lugten, die sich,
wie sie wussten, auf einem Band am Ende der Schwierigkeiten befanden.
Einige Meter kletterte Schertle noch an Spezialhaken über den Wulst hinaus,
bevor es höchste Zeit wurde, zum Bohrhaken unterhalb zurückzukehren und –
„restlos fertig, nach 13 Stunden Arbeit“ – ein weiteres Hängemattenbiwak
vorzubereiten.
Die Haken gingen schon wieder aus, gerade die Profilhaken, die in dem Gelände
am nötigsten waren. Per Zurufe wurde Schertle´s Frau Christl, die sich gerade
am Einstieg aufhielt, informiert, in der Hoffnung, dass sie evtl. bis zum
nächsten Tag die entsprechenden Haken organisieren könne. Wieder, wie am Tag zuvor,
nächtigten die beiden mit einer Seillänge Abstand voneinander.
In der sternklaren Nacht gab es eine freudige Überraschung: „Gegen 12 Uhr rief
plötzlich jemand meinen Namen. Franz Rasp war unten am Einstieg, brachte
Pofilhaken, normale Haken und Obst…“ Spät am Abend hatte er die speziellen
Haken organisieren können und war gleich wieder aufgestiegen, um seinen
Kameraden behilflich zu sein.
Gut nachvollziehbar ist Schertles Tagebucheintrag über das letzte „Aufstehen“
in der Wand: „Am Morgen wollten wir gar nicht aus den Federn, aber um 6.00 Uhr
ging es los. Das schwierige Manöver, in der schwankenden Matte aus dem
Schlafsack zu kriechen und die Schuhe anzuziehen, machte mich warm…“ Als erstes
galt es, die in der Nacht gelieferten Sachen mühevoll über eine 200 Meter lange
Reepschnur aufzuseilen.
Anschließend folgte Steinkötter zu Schertle´s Standplatz nach und übernahm die
Führung.
Wie umständlich das Überklettern eines an einer senkrechten Wand
festgebundenen, in Trittschlingen schaukelnden Menschen ist, kann sich wohl
auch der Nichtkletterer vorstellen.
Bald war Steinkötter am höchsten Punkt angelangt.
Schertle konnte seinen Kameraden über dem Wulst nicht mehr sehen.
Nur aus dem ruckartigen Auf und Abgleiten der Seile durch seine Hände konnte er
die Schwierigkeiten, mit denen sein Kamerad zu kämpfen hatte, erspüren. Obwohl
es mit Hilfe der neuen Haken immer ganz gut weiterging, war es schon wieder
Mittag geworden „…die Nerven fieberten bei jedem Wort … noch 15, noch 10 Meter
zum Latschenbusch…“. Endlich,
mit einem Freudenschrei – „wir haben es geschafft, das Gelände wird leichter“ –
erreichte Steinkötter gegen 14 Uhr das latschenbewachsene Band.
Nachdem sie ein letztes Mal die Rucksäcke aufgeseilt hatten, kletterte Schertle
über den „nur leicht überhängenden Ausläufer des dritten Wulstes“ zu seinem
Kameraden hinauf, zum ersten vernünftigen Standplatz seit der Nische unter dem
großen Überhang:
Ein ebener Fleck, auf dem man stehen und sogar sitzen kann, ist im Alltag der
meisten Menschen wohl kein besonders aufregendes Ereignis oder Anlass für
überschwängliche Freude. Am Ausstieg des Schertlepfeilers, nach 200 Meter
senkrechter bis überhängender Kletterei ist das anders: es ist der pure Luxus
oder (fast) wie im Paradies.
So nannten die beiden das kleine Band, auf dem man sich richtig hinsetzen
konnte „Latschenparadies“.
Nach einer Pause und nachdem sie ein kleines Wandbuch in einer Dose hinterlegt
hatten,
machte sich Schertle an die letzten Meter, die keine nennenswerten
Schwierigkeiten mehr bereiteten. Um 16.00 Uhr standen beide oben am
Pfeilergipfel, überglücklich, wo sie von Schertle´s Frau Christel, Freunden und
der Wirtin vom Störhaus samt Dackel Dolly empfangen wurden.
„Endlich ist er uns gelungen, nach so vielen Versuchen, der Durchstieg durch den Mittelpfeiler des Berchtesgadener Hochthrons … über unsere unendliche Freude kann man wenig schreiben…“ schrieb Schertle später in sein Tagebuch.
Gemeinsam zogen sie zur Hütte, wo es noch ein Festessen gab, bei dem auch am Wein nicht gespart wurde.
150 Haken hatten sie geschlagen, vier Holzkeile und sieben Bohrhaken, 42
Stunden reine Kletterzeit im fünften Anlauf benötigt für die 300 Meter hohe
Wand, der ersten „Direttissima“ in den Berchtesgadener Bergen. Die »Direkte
Pfeilersüdwand« am Untersberg war die erste einer Reihe großartiger
Erstbegehungen, die Werner Schertle in den folgenden Jahren durchführte.
Im gleichen Jahr (1962) folgte die Westverschneidung (V+/A3) des Kleinen
Watzmanns (Schertle/Enzinger), 1963 der Blausandpfeiler (VI-/A2) auf der
Salzburger Seite des Untersberges (Schertle/Stadelberger) und die
Wartsteinverschneidung (VI-/A1) an der Nordseite der Reiteralm
(Schertle/Steinkötter). In den Südabstürzen der Reiteralm gelingen seine
größten Touren: 1964 mit Klaus Werner die Direkte Südwand (V+/A3) des Großen
Mühlsturzhorns, die in gerader Linie mitten durch die steilen Kalkplatten einer
der besten Kletterwände der Berchtesgadener Alpen zieht. Wild sind die Routen
am Kleinen Mühlsturzhorn: Schon die Zustiege zur Südwand des Ostsporns (A3/VI,
Schertle/Werner 1965) und zur Direkten Südwestwand („Christlweg“, VI/A3,
Schertle/Hirnsdorfer 1969) sind Unternehmungen für sich. Besonders am
Christlweg erwartet den unerschrockenen Begeher bereits am Einstieg, im
Schrofengelände am tiefsten Punkt unter gelb-brüchigen Wänden, von wo völlig
unzugängliche Gräben bis ins Klausbachtal hinunterziehen, eine Szenerie, wie er
sie wilder in den ganzen Berchtesgadener Alpen nicht finden kann. Geboten war
neben einigen schauerlich brüchigen Seillängen bis zum großen Plattenband dann
eine Vielzahl origineller und schwieriger Passagen in freier und
hakentechnischer Kletterei. Den wenigen Begehungen (etwa 7 in 30 Jahren) werden
keine weiteren folgen: Beim letzten großen Bergsturz in den Berchtesgadener
Bergen am 8. September 1999 lösten sich im Gipfelbereich des Kleinen
Mühlsturzhorns ca. 250 000 m Fels (mitsamt dem Ausstiegskamin des Christlweges)
und stürzten auf die unteren Wandbereiche. Wenige Wochen zuvor noch hatten
Mitglieder der Ramsauer Bergwacht die Standplätze einer älteren Route in
unmittelbarer Nähe der Ausbruchsstelle mit Bohrhaken saniert, wobei sie sich
über die ungewöhnlich locker sitzenden alten Haken gewundert hatten… Weitere
Schertle-Routen sind der Ostpfeiler (VI-/A2) am Untersberg (Schertle/Zembsch
1966), die Südverschneidung (V+/A2) des Großen Häuslhorns (Schertle/Stutzig
1967) und ein direkter Zustieg zum 1. Absatz des Südpfeilers (V+/A2) am Hohen
Gerstfeld (Schertle/Rasp 1968 ). In den 70er Jahren folgen einige
Freiklettereien: der Achenkopf Südgrat (Schertle/Braun-Elwert 1973) und die
Grünwandkopf Südostwand (Schertle/Braun-Elwert 1973) im Göllgebiet sowie der
„Renateweg“ (Schertle/Selbach 1978) und der Südwestpfeiler (Schertle/Pückert
1978) durch die 450 Meter hohe Südwestwand des Großen Mühlsturzhorns. Die
Technoroute durch die abweisende Nordwand des Feuerhörndls (VI-/A3) an der
Reiteralm, die Schertle nach langwierigen Vorarbeiten mit verschiedenen
Partnern schließlich 1977 mit W.Selbach vollendet, war sein letztes alpines
Meisterstück.
Ein ausbrechender Griff im leichten Schrofengelände wenige Meter unter dem
Gipfel des Hochstaufen über Bad Reichenhall beendete am 23. Mai 1979 das Leben
des bedeutendsten Kletterers des „Direttissimazeitalters“ in den
Berchtesgadener Alpen.
A.H. 2002
Auf einen Blick
Die Erstbegehungen des Werner Schertle
Bilder
1 Links im Bild: Direkte Pfeiler-Südwand am Untersberg ("Schertlepfeiler"), VI A3 von 1962.
Die erste "Direttissimaroute" in den Berchtesgadener Alpen. Im unteren Wanddrittel gut
sichtbar der große Überhang der überklettert wird. Die Erstbegeher verwendeten
150 Normalhaken und 7 Bohrhaken.
2 Nachdem man von der Südpfeiler-Route von Hinterstoisser/Kurz (1936) über einen Quergang in
die Falllinie des Großen Überhanges gelangt ist, geht es nur noch senkrecht bis überhängend weiter.
3 Im großen Überhang. Die Seile markieren die Senkrechte.
Begehung Oktober 1975.
4 An der Dachkante hat man wirklich viel Luft unter dem Hintern.
Früher kletterte man hier "hakentechnisch" (A3), nach Sanierung mit Bohrhaken
geht es heute "frei" (9. Grad).
Werner Schertle
† 23. Mai 1979 am Hochstaufen über Reichenhall